Tierrechte – das Ende einer Illusion?

In der Praxis ist die Tierrechtsbewegung bisher grandios gescheitert

Helmut F. Kaplan

Jährlich werden zwischen 50 und 60 Milliarden Tiere für menschliche Ernährungszwecke getötet. Das sind etwa 150 Millionen Tiere täglich. Fische und andere Wassertiere sind in diesen Zahlen nicht enthalten.

Tierrechte werden heute im wesentlichen gemäß den theoretischen Ansätzen der Philosophen Tom Regan und Peter Singer formuliert. Regan steht in der kantischen Tradition und vertritt einen eher technischen Rechtsbegriff: Weil (auch) Tiere einen inhärenten Wert haben, haben sie auch das RECHT, entsprechend diesem inhärenten Wert behandelt zu werden. Das heißt vor allem: Tiere dürfen nicht so behandelt werden, als hinge ihr Wert von ihrer Nützlichkeit für andere ab.

Singer steht in der Tradition Benthams bzw. des Utilitarismus und spricht nur im übertragenen bzw. umgangssprachlichen Sinne von Rechten: Gleiche Interessen, seien es nun menschliche oder tierliche, sollen auch moralisch gleich gewichtet werden. So verdient beispielsweise ein tierliches Interesse, nicht zu leiden, die gleiche moralische Berücksichtigung wie ein gleich starkes menschliche Interesse, nicht zu leiden. Tiere haben wie Menschen einen Anspruch – ein RECHT, wenn man so will -, auf gleiche Interessenberücksichtigung.

Unabhängig von solchen philosophischen Begriffen und Erwägungen glauben viele, wenn nicht die meisten Menschen, daß Tiere heute ohnehin ausreichend Rechte in dem Sinne hätten, daß ihre Ansprüche auf angemessene Behandlung, etwa auf artgerechte Haltung, gesichert seien. Schließlich gibt es diverse Tierschutzbestimmungen, von denen viel und oft zu lesen und zu hören ist.

Unbestreitbare Tatsache ist allerdings, daß Millionen von Tieren in Tierfabriken, auf Tiertransporten, in Schlachthäusern, in Versuchslabors usw. TROTZ dieser Schutzbestimmungen tagtäglich auf grauenhafte Weise gequält und getötet werden. Mit anderen Worten: Die Auffassung, wonach bei unserem Umgang mit Tieren alles geregelt und in Ordnung sei, ist schlicht falsch, ein gigantischer Irrtum – oder eine gigantische Selbsttäuschung.

Wem dieser übliche brutale Umgang mit Tieren schon vor 15 Jahren bewußt und ein Dorn im Auge war, konnte damals berechtigterweise hoffen, daß sich die Situation in absehbarer Zeit grundlegend verbessern würde. Um es mit den Worten der Tierrechtsbewegung zu sagen: Er konnte rationalerweise hoffen, daß sich die „Befreiung der Tiere" analog der Befreiung der Sklaven und der Emanzipation der Frauen vollziehen würde. Dieses Szenario in aller Kürze:

Die Tierrechtsbewegung ist die logische Fortsetzung anderer Befreiungsbewegungen, wie eben der Befreiung der Sklaven oder der Emanzipation der Frauen. Immer ging und geht es darum, moralische Diskriminierungen aufgrund moralisch belangloser Merkmale zu erkennen und zu überwinden: Wir haben erkannt, daß die Hautfarbe belanglos ist. Wir haben erkannt, daß die Geschlechtszugehörigkeit belanglos ist. Und nun erkennen immer mehr Menschen, daß auch die Artzugehörigkeit moralisch belanglos ist: Warum soll man jemanden quälen dürfen, weil er zu einer anderen Art gehört? Die Ausbeutung und Diskriminierung aufgrund der Art, aufgrund der Spezies, der „Speziesismus", ist ebenso willkürlich und falsch wie Rassismus und Sexismus.

Die Chancen für solche „antispeziesistische" gesellschaftliche Veränderungen analog den antirassistischen und antisexistischen Entwicklungen schienen vor 15 Jahren durchaus intakt. So schrieb etwa das Nachrichtenmagazin „Focus" 1994 anläßlich eines dreiseitigen Interviews mit mir: „Neuerdings publiziert er im deutschen Großverlag Rowohlt. Seine Streitschrift `Leichenschmaus. Ethische Gründe für eine vegetarische Ernährung` ... ist auf dem Weg, die Bibel der Radikalvegetarier und Tierbefreier zu werden." Von solchen Tatsachen und Meldungen können Tierrechtler gegenwärtig nur träumen. Wenn heute ausführlich über Bücher in bezug auf Tiere berichtet wird, dann über Kochbücher, in denen der Leichenschmaus, also das Fleischessen, nicht kritisiert, sondern zelebriert wird.

Desaströser Zustand der Tierrechtsbewegung

Würde ein Tierrechtler, der vor 15 Jahren ins Koma gefallen ist, heute erwachen - er käme aus dem Staunen nicht mehr heraus: vor Staunen über den desaströsen Zustand, in dem sich die Tierrechtsbewegung heute befindet. Der Eindruck, der sich mir nach über zwei Jahrzehnten intensiver und ununterbrochener Befassung mit Tierrechten immer unabweisbarer aufdrängt, ist: Bei Fortsetzung der bisherigen Strategien hat die Tierrechtsbewegung keine Chance, ihren Zielen in absehbarer Zukunft näherzukommen.

Und zwar vor allem aus zwei Gründen: 1) Der Fleischlobby – der Ausdruck soll hier als wertfreier Sammelbegriff für alle verwendet werden, die ein Interesse an der Förderung des Fleischkonsums haben - ist es gelungen, die Einstellung der Menschen zum Fleischessen radikal und nachhaltig zu ihren Gunsten zu verändern. Dazu gleich. 2) Das Fleischessen, also das Essen von Tieren, bildet das ethische und emotionale Fundament für unsere Einstellung und unser Verhalten gegenüber Tieren insgesamt: Solange wir bereit sind, praktisch alle tierlichen Interessen einem einzigen, objektiv betrachtet vergleichsweise winzigen menschlichen Interesse an bestimmten Geschmackserlebnissen zu opfern, sind wir auch zu jedem anderen Opfer tierlicher Interessen bereit.

Bevor wir uns der massiven Einstellungsänderung in bezug auf das Fleischessen zuwenden, sei noch generell auf ein paar Rückschritte verwiesen, die die Tierrechtsbewegung hinnehmen mußte, sowie auf Defizite, mit denen sie behaftet ist:
- Pelz: Seit einiger Zeit wird wieder vollkommen offen für Pelz geworben. Einer DPA-Meldung vom September 2008 ist zu entnehmen: „Dank einer guten Nachfrage ... erwartet das deutsche Kürschnerhandwerk ... ein leichtes Umsatzwachstum von bis zu 1,5 Prozent." Der Präsident des Zentralverbandes des Kürschnerhandwerks, Wolfgang Jahn: „Alle weltweit bekannten Designer und Marken zeigen Pelz in ihren Kollektionen."
- Kochsendungen: In diesen Shows, die mittlerweile praktisch pausenlos ausgestrahlt werden, haben Schadenfreude und Sadismus in bezug auf das Leiden und Sterben der betroffenen Tiere drastisch zugenommen.
- Vergleich der Tierrechtsbewegung mit der Frauenbewegung: „Wir haben abgetrieben!" lautete die Titelschlagzeile des „Stern" vom 6. Juni 1971 – und dokumentierte eine ebenso eindrucksvolle und wirksame Solidarisierung Prominenter mit dem Anliegen von Frauen. Solidaritätsadressen Prominenter für Tiere sind im Vergleich dazu hoffnungslos harmlos.
- Vergleich der Tierrechtsbewegung mit der Umweltbewegung: Tschernobyl hat im Hinblick auf die Ökologiebewegung immerhin bewirkt, daß sich die Atomlobby in Deutschland bis heute schwer tut, ihr Anliegen zu vermitteln. Vergleichbares hat es in bezug auf das Fleischessen trotz BSE und Vogelgrippe nicht gegeben.

Bevor wir fortfahren, muß noch kurz etwas zum Stichwort Frauenemanzipation gesagt werden: Es gibt ein paar wichtige UNTERSCHIEDE zwischen der Tierrechtsbewegung und anderen Befreiungsbewegungen wie etwa der Frauenrechtsbewegung, die bisher viel zuwenig berücksichtigt wurden:
- Im Unterschied zu diskriminierten Menschen können Tiere selbst keinen Beitrag zu ihrer Befreiung leisten.
- Im Unterschied zu den Ausbeutern von Menschen haben die Ausbeuter von Tieren keine Rache ihrer Opfer zu befürchten.
- Bei Initiativen zur Befreiung von Menschen kommt immer der menschliche Egoismus zum Tragen: bei den zu Befreienden selbst - ein durchaus legitimer „Egoismus" -, aber unter Umständen auch bei den Unterdrückern: Aufgebrachte, protestierende und rebellierende Diskriminierte können auf Dauer schlicht gesamtgesellschaftlich in vielerlei Hinsicht nachteilig sein oder werden.
- Bei der Befreiung der Tiere wird das unterm Strich wohl wirksamste menschliche Interesse fundamental berührt: der als selbstverständliches Recht empfundene unbändige Wunsch, alles, worauf man Lust hat, zu essen.

Nun zur erwähnten massiven Veränderung unserer Einstellung zum Fleischessen in den letzten Jahren. Die wichtigsten Errungenschaften der Tierrechtsbewegung von ihren Anfängen Mitte der 1970er Jahre bis Anfang der 1990er Jahre wurden systematisch wieder rückgängig bzw. zunichte gemacht:
- das zumindest ansatzweise Bewußtsein, daß Tiere schützen und Tiere essen eigentlich ein Widerspruch ist;
- das zumindest ansatzweise Gefühl, daß Fleischessen aufgrund seiner fehlenden Notwendigkeit in unseren Regionen (immens reichhaltiges vegetarisches Nahrungsangebot) moralisch bedenklich ist;
- das daraus resultierende zumindest ansatzweise schlechte Gewissen beim Fleischessen.

Es wird den Menschen suggeriert: Ihr könnt so viele Tiere essen, wie ihr wollt, wenn ihr dabei nur ihre Würde respektiert. Damit wird den Menschen jenes gute Gewissen zurückgegeben, das sie vor Entstehung der Tierrechtsbewegung hatten. Die Menschen werden quasi ermuntert, es sich in der alten irrationalen Tierschutzecke wieder gemütlich zu machen: Tiere gerne haben und Tiere essen ist doch kein Widerspruch!

Zynische und sadistische Tendenzen

Im Zusammenhang mit dieser Einstellungsänderung in Richtung wohligem, selbstverständlichem Fleischgenuß ist auch ein viel offenerer Umgang mit den Fakten in bezug auf die Tiernutzung im allgemeinen und in bezug auf die Tiertötung im besonderen zu beobachten (wobei sich trefflich darüber streiten läßt, ob diese „Faktenfreudigkeit" eine Voraussetzung oder eine Folge dieser Einstellungsänderänderung ist): Während diese Fakten früher nach Möglichkeit verdrängt, verleugnet und verschwiegen wurden, findet jetzt eher das Gegenteil statt – quasi eine Flucht nach vorne. Die Fakten werden nicht nur offen angesprochen, sondern zum Teil geradezu offensiv präsentiert. (Wobei allerdings die „Spitzen" der Grausamkeiten und Gemeinheiten gegenüber Tieren wohlweislich ausgespart bleiben, weil diese selbst bei zynischen Zeitgenossen Empörung und Mitleid mobilisieren könnten). Dazu ein paar Beispiele:

„In Europa werden jährlich mehr als 300 Millionen Küken vernichtet – weil Eierproduzenten nur die Hennen brauchen. ( ... ) Die Hahnenküken sind für die Brütereien schlicht Abfall. Sie werden mit Kohlendioxid vergast oder lebendig im `Homogenisator`, einer Maschine mit rotierenden Messern, zu Brei zermatscht."
Die Zeit, 25, 2008, S. 35

„In Deutschland werden pro Jahr etwa 20 Millionen Ferkeln in der ersten Woche ihres Lebens bei vollem Bewußtsein die Hoden weggeschnitten."
Der Spiegel, 19, 2008, S. 22

„100.000 Kühe und Rinder werden im Salzburger Schlachthof in Bergheim jedes Jahr zerlegt. Pro Betriebsstunde sind es 45 Tiere, die in der automatisierten Schlachtstraße ihr Leben lassen .... Für Gerald Hellweger, seit knapp einem Jahr Geschäftsführer im Schlachthof ..., ist dieser Vorgang Alltag. ( ... ) Von Kindesbeinen an bekommt der gebürtige Adneter mit, dass Kühe nicht nur auf der Weide grasen und Milch geben, sondern auch gehandelt und geschlachtet werden."
Salzburger Nachrichten (Lokalteil) vom 28. 7. 2008, S. 11

„177.000 Liter Biomilch geben die 24 Lindnerhof-Kühe im Jahr, jedes Tier bis zu 30 Liter am Tag. Die müssen erst einmal durchs Euter. ( ... ) Etwa zehn Kälber, im idealen Fall jedes Jahr eines, bekomme eine Milchkuh. `Dann ... wird sie geschlachtet.` Letztendlich landet die Milchkuh ... als Wurst auf dem Teller."
Salzburger Nachrichten (Lokalteil) vom 28. 4. 2008, S. 6 f.

„Ein muslimischer Schlachthof in einer Stadt in Niedersachsen: Hier wird einem Schaf bei vollem Bewusstsein die Kehle durchgeschnitten. Das Schlachten ohne vorherige Betäubung nennt man auch Schächten. Ein religiöser Brauch im Islam und im Judentum. ( ... ) Die Folge des betäubungslosen Schlachtens: ein minutenlanger, qualvoller Todeskampf. Die Bundestierärztekammer schätzt, dass bis zu 500.000 Schafe auf diese Weise in Deutschland pro Jahr der Religion wegen geschlachtet werden."
Information auf der ARD-Homepage zur Sendung „Ist Schächten Tierquälerei?" vom 7. 7. 2008

Wolfram Siebeck zitiert den Koch gleichen Namens, Jürgen Koch, wie folgt: „Sein Zicklein vereinigt das Beste der jungen Ziege einschließlich der Leber am Spieß." (Zeit Magazin Leben, 17, 2008, S. 46) Siebeck über den Koch Franz Keller (Zeit Magazin Leben, 16, 2008, S. 46): „Wobei zu bemerken ist, dass er sich am Herd um alles kümmert, was einstmals Tier war."

Wie diese Beispiele zweifelsfrei belegen, besteht auch keine Scheu mehr davor, über offensichtliche Grausamkeiten zu berichten. Mehr noch: Teilweise sind Schadenfreude gegenüber den tierlichen Opfern bzw. Zynismus gegenüber ihrem Schicksal und Leiden unübersehbar. Dazu noch ein paar drastischere Beispiele:

„Nicht der Gorilla muß geschützt werden, sondern sein Lebensraum".
Die Zeit, 21, 2008, S. 35

„Eine Kuh ist eine wundersame biochemische Fabrik: Sie wandelt Pflanzen in Fleisch um."
Die Zeit, 20, 2008, S. 42

In der ZDF-Sendung „Kochkünste auf chinesisch" anläßlich der Olympiade in China machen sich die Köche über das Leiden der Tiere, die in China bekanntlich besonders barbarisch behandelt werden, lustig - und ernten damit begeisterten Publikumsapplaus.

In einer Information über die „Peking-Ente" heißt es in den Salzburger Nachrichten vom 9. August 2008 (S. XI): „Damit die Haut das nötige Fett ansetzt, sollte sich die designierte Peking-Ente in den letzten 20 Tagen vor ihrem `Amtsantritt` in einem Restaurant möglichst wenig bewegen. Jenes Tier, das nun ... vor mir liegt, scheint dies beherzigt zu haben. Die Haut schmeckt genauso
verführerisch wie sie riecht. Ente gut, alles gut."

Ideologisierung des Fleischessens

Langfristig noch folgenschwerer als diese sadistisch-zynischen Tendenzen wird aber eine Entwicklung sein, die man als Ideologisierung des Fleischessens bezeichnen könnte: Mittlerweile ist eine neue Generation von Konsumenten herangewachsen, eine Symbiose aus traditioneller Gleichgültigkeit oder Überheblichkeit gegenüber Tieren einerseits und neuer „grüner" Gesinnung andererseits. Das erklärte oder unterschwellige Credo dieser Haltung lautet etwa: Wir müssen wieder zurückfinden zu einer gesunden, natürlichen, bewußten Ernährung, uns selbst als Teil eines größeren Ganzen begreifen. Auf „Fressen und Gefressenwerden" wird diese Haltung häufig mehr oder weniger augenzwinkernd zugespitzt - oder aber mit dem pseudophilosophischen Terminus „Kreislaufdenken" verharmlost.

Aus dieser Sicht erscheint das Töten von Tieren zwecks Fleischessen geradezu als Dienst an Natur oder Schöpfung. Wer sich solcherart „bewußt" ernährt, klinkt sich quasi wieder aktiv ins natürliche oder gottgewollte Geschehen ein. Diese Grundhaltung ist allerdings keineswegs auf bestimmte Gruppen wie etwa „grüne Spinner" oder „Wertkonservative" beschränkt, sondern wird zunehmend (wieder) zum vorherrschenden weltanschaulichen Fundament der Tiernutzung. „Machet euch die Erde untertan" hieß die frühere Devise, die aber seit Aufkommen der Ökologiebewegung schwer dikreditiert ist.

Parallel zur Rehabilitierung des Fleischessens gibt es auch Tendenzen, das Bild des kränkelnden, schrulligen Vegetariers wiederzubeleben. So heißt es etwa in der FAZ vom 23. Juli 2008 (S. 16) über den Apple-Chef Steve Jobs: „Beim letzten öffentlichen Auftritt von Jobs ... waren viele Beobachter erschrocken über sein Erscheinungsbild. Jobs sah fahl und eingefallen aus. Es ist zwar bekannt, dass der 53 Jahre alte Jobs strikter Vegetarier ist ...." Und im Literaturmagazin „Druckfrisch" vom 5. Oktober 2008 fragt Denis Scheck den Autor einer neuen Kafka-Biographie, ob er denn eine Erklärung für Kafkas merkwürdiges „Vegetariertum" habe.

Wenn man so will, arbeitet die Fleischlobby nunmehr, ermuntert durch ihre unleugbaren Erfolge, an ihrem Meisterstück: dem Appell an die ethische Konsequenz. So zitieren etwa die Salzburger Nachrichten vom 22. September 2008 (Lokalteil, S. 6) eine Norikerpferd-Züchterin mit den Worten: „Die Leute müssen umdenken. Es gibt keinen moralischen Unterschied, ob ich Kalb oder Fohlen esse." Um den qualitativen Sprung, den diese Strategie bedeutet, ermessen zu können, muß man sich vergegenwärtigen, was bisher eines der stärksten Argumente GEGEN das Fleischessen war: „Warum ißt du Schweine? Du ißt doch auch keine Hunde!" Mit Konsequenz-Appellen dieser Art kann man möglicherweise bald nichts mehr ausrichten – wenn die Devise lautet: „Wenn du dieses Tier ißt, warum nicht auch jenes!"

Wie konnte es soweit kommen? Die Dramatik dieser Frage setzt eine Sichtweise voraus, die keineswegs zutreffen muß, nämlich, daß die Tierrechtsbewegung quasi der Logik der Geschichte folge, weil sie – siehe oben – die konsequente und notwendige Fortsetzung anderer Befreiungsbewegungen darstelle. Möglich und legitim ist auch die Position, wonach es sich bei der Tierrechtsbewegung schlicht um eine vorübergehende Modeerscheinung gehandelt hat – auf die die Fleischlobby reagieren mußte und reagiert hat. So betrachtet erscheint die Entwicklung der vergangenen Jahre dann in einem völlig anderen Licht: Es wurde lediglich der frühere, „normale" Zustand wiederhergestellt.

Welche Sichtweise die richtige, die realistische ist, wird sich erst rückblickend sagen lassen. Aber unabhängig davon lassen sich nüchtern jene Faktoren herausarbeiten, die zu den beschriebenen Veränderungen in den letzten Jahren (die wir als „Rückschritte" bezeichnet hatten) geführt haben, sowie jene Faktoren, die in die entgegengesetzte Richtung, also in Richtung Verwirklichung von Tierrechten wirken oder wirken könnten.

Erfolgreiche Fleischlobby – egozentrische Tierrechtler

Den wichtigsten Grund für die beschriebenen Veränderungen der letzten Jahre haben wir bereits genannt: die äußerst erfolgreiche Arbeit der Fleischlobby. Ein zweiter Grund ist, daß es die Konsumenten der Fleischlobby naheliegenderweise sehr einfach gemacht haben: Menschen, die gerne Fleisch essen, sind außerordentlich empfänglich und dankbar für alle argumentativen und sonstigen Angebote, die ein unbekümmertes Fleischessen versprechen, insbesondere ein Fleischessen ohne schlechtes Gewissen. Menschen, die nach jedem Strohhalm greifen, der ein ungestörtes Festhalten an liebgewonnenen Eßgewohnheiten verheißt, sind naturgemäß ein leichtes Opfer entsprechender Angebote.

Ein dritter Grund für die negative Entwicklung der letzten Jahre ist das völlige Versagen der Tierrechtsbewegung. Allzuviele Tierrechtler kümmern sich beispielsweise viel mehr um die Gesinnung ihrer Genossen als um das Schicksal der Tiere. Da ist zunächst einmal die Szene-typische abstruse Egozentrik: Für jeden Tierrechtler ist ein „wirklicher" Tierrechtler letztlich nur, wer genauso ist wie er selbst. Dementsprechend darf ein richtiger Tierrechtler dann nicht rauchen oder keinen Alkohol trinken oder muß strikt antikapitalistisch sein oder christlich oder atheistisch usw. Um den Schaden, den diese fundamentale Unreife und Intoleranz anrichtet, zu ermessen, braucht man sich nur vorzustellen, wie es heute um Menschenrechte bestellt wäre, würden Menschenrechtsbefürworter ähnlich agieren.

Immens viel Energie wird auch darauf verwendet, alle derart „Ungläubigen" angemessen abzustrafen - durch Totschweigen, Boykottieren, Verleumden und Ausgrenzen. Das größte Handikap der Tierrechtsbewegung sind aber wohl persönliche Eitelkeiten. Der Schaden, den die Profilneurotiker anrichten, ist schlicht unermeßlich. Um sich selbst ins vermeintlich rechte Licht zu setzen, gehen diese Menschen buchstäblich über Leichen: über die Leichen jener Tiere nämlich, denen deshalb nicht geholfen werden kann, weil die dazu nötige Zeit und Energie darauf verwendet wird, Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, Kooperationen aufzukündigen usw.

Ein weiterer wichtiger Negativpunkt: In der Tierrechtsbewegung gibt es so etwas wie ein ungeschriebenes Optimismus-Gebot: Man muß immer an den Erfolg der Bemühungen in Richtung Befreiung der Tiere glauben. Das mag im Umgang mit jenen, die es noch von der Richtigkeit und Notwendigkeit von Tierrechten zu überzeugen gilt, durchaus sinnvoll sein. Schließlich ist es schwierig, jemanden für eine Sache zu gewinnen, an deren Erfolg man selber zweifelt. Aber intern birgt dieses mentale Dauerlächeln und die damit einhergehende Wahrnehmungsverzerrung große Gefahren mit sich:

Wer die Wirklichkeit nicht mehr richtig wahrnimmt, kann sie auch nicht wirksam verändern. Insbesondere kann dieser Zwangs-Optimismus dazu führen, daß an effektiv erfolglosen Methoden viel zu lange festgehalten wird (weil ihre Erfolglosigkeit aufgrund systematischer Wahrnehmungsverzerrungen nicht erkannt wird). Schließlich: Wenn sich niemand mehr über „pessimistische" Zukunftserwartungen zu reden getraut, glaubt jeder, daß nur er sie hat – und fühlt sich doppelt hoffnungslos.

Die verheerenden Folgen von Denkverboten sind ja bei vielen Religionen zu besichtigen, wo das Denken mehr oder weniger durch das Glauben ersetzt wird. Das Ergebnis sind Dogmen und Wahrnehmungen, die mit der Realität immer weniger zu tun haben. Wer aber, wie gesagt, die Wirklichkeit nicht richtig wahrnimmt, kann sie auch nicht wirksam verändern. Das Ertragen der Wahrheit ist die erste Voraussetzung für die Veränderung der Wirklichkeit.

Gewichtige Fakten und Argumente

Andererseits gibt es aber auch starke Kräfte und Aspekte, die eine Entwicklung in Richtung Verwirklichung von Tierrechten begünstigen. Dazu zählen vor allem auch jene unbestreitbaren Fakten in bezug auf Hunger, Umweltzerstörung, Klimawandel und Krankheit, die zwar seit Jahrzehnten bekannt sind, aber erst in jüngster Vergangenheit von der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen werden. Dazu stichwortartig ein paar Informationen:

Hunger: Die Welternährung ist zunehmend nicht nur eine Verteilungs-, sondern auch eine Produktionsfrage: Die Weltbevölkerung wächst jährlich um 80 Millionen Menschen. Und bei einer vegetarischen Lebensweise könnten bei gleicher Ressourcensituation zehnmal soviele Menschen ernährt werden.

Umweltzerstörung: Die Fleischproduktion führt beispielsweise zu einer immensen Wasserverschmutzung und Wasserverschwendung: Über 50 % der Wasserverschmutzung Europas wird durch die Massentierhaltung verursacht. Zur Produktion von 1 kg Kartoffeln benötigt man 900 Liter Wasser, zur Produktion von 1 kg Rindfleisch benötigt man 15.500 Liter Wasser.

Klimawandel: Ein Fleischesser verursacht pro Jahr gleich viele Treibhausgase wie eine Autofahrt von 4758 Kilometern, ein Vegetarier nur die Hälfte. (Ein Veganer verursacht lediglich Treibhausgase, die einer Autofahrt von 629 Kilometern entsprechen.) Der negative Einfluss der Nutztiere auf die Klimaerwärmung ist größer als der des weltweiten Verkehrs.

Krankheit: Zahlreiche Studien belegen, daß eine vegetarische Ernährung erheblich dazu beitragen kann, ernährungsbedingten Erkrankungen wie Übergewicht, Atherosklerose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Hypertonie, Gicht und verschiedenen Krebserkrankungen vorzubeugen.

Ermutigend ist auch die Entwicklung an den Universitäten, die ja erfahrungsgemäß so etwas wie das Zukunftslabor für gesellschaftliche Veränderungen sind: Wenngleich auch hier das anthropozentrische Erbe eine schwere Last mit großem Trägheitsmoment darstellt, weht hier dennoch gegenüber faktisch und rational letztlich unhaltbaren Positionen ein viel stärkerer Wind, als dies gesamtgesellschaftlich der Fall ist. Mit anderen Worten: Gewichtige Fakten und Evidenzen haben auf universitärem Boden eine realistische Chance, sich in absehbarer Zeit durchzusetzen.

Und mit solchen gewichtigen Fakten und Evidenzen kann die Tierrechtsbewegung wahrlich wuchern! Ich greife hier lediglich die Elemente eines Argumentationszusammenhangs heraus:
1) Die Ähnlichkeit zwischen Tieren und Menschen - Stichwort „evolutionäre Kontinuität": Das Leben hat sich kontinuierlich entwickelt und die Merkmale der Lebewesen variieren kontinuierlich - weshalb auch die üblichen Alles-oder-nichts-Zuschreibungen der Art, nur Menschen hätten diese oder jene Fähigkeiten, in aller Regel unsinnig sind. Das gilt auch für das Seelenleben: „Wie groß auch der Unterschied zwischen den Seelen der Menschen und der höheren Tiere sein mag, er ist doch nur ein gradueller und kein prinzipieller." (Darwin)
2) Das Gleichheitsprinzip, eines der ganz wenigen praktisch unbestrittenen philosophischen bzw. ethischen Grundsätze, wonach Gleiches bzw. Ähnliches auch gleich bzw. ähnlich bewertet und behandelt werden muß.
3) Viele Tiere befinden sich sogar auf einem höheren Niveau als viele Menschen. Kein Merkmal, das von irgendjemandem als moralisch relevant angesehen wird, verläuft entlang der Speziesgrenze Menschen – Tiere und es gibt immer Menschen, bei denen das betreffende Merkmal schwächer ausgeprägt ist als bei vielen Tieren. Viele geistig behinderte oder senile Menschen etwa und alle kleinen Kinder befinden sich auf einem deutlich niedrigeren Niveau als etwa Hunde, Katzen, Rinder und Schweine.

Zusammenfassend kann in bezug auf die Zukunft der Tierrechtsbewegung gesagt werden: Es gibt starke Kräfte, die in Richtung Realisierung von Tierrechten wirken, und es gibt starke Kräfte, die in die entgegengesetzte Richtung wirken. Wie dieser „Kampf" letztlich ausgehen wird, ist offen. Sicher ist aber, daß die jetzige Situation schwieriger ist, als es der von der Tierrechtsbewegung verordnete Optimusmus vermuten läßt. Gute Gründe also für alle, denen die Befreiung der Tiere am Herzen liegt, sich noch mehr anzustrengen!

Copyright: Helmut F. Kaplan

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