Der Alptraum des Jägers / Der Tag der Rache

von Heike Heinze, Berlin

Schneeflocken rissen den schnarchenden Jäger aus dem Schlaf. Zarte, weiße Gebilde, die scharfkantigen Kristallen gleich, in die Poren seiner nackten Haut stachen. Entsetzt riss er die Augen auf - verfluchte diesen naturgegebenen Reflex, denn sofort brannten seine vereisten Lider wie Feuer. Das steife, beinahe taube Anhängsel seines rechten Unterarms verlor die Balance im Dickicht knackender Zweige. Die Kälte, "Oh mein Gott, diese furchtbare  Kälte!", hatte sein zuvor ruhendes, fröhliches Gesicht zu einer schieflächelnden Maske modelliert. Sein Kopf schnellte wie ein fratzenhaft rosiger Pingpongball hin und her und verstand nicht! Der Schädel des Mannes schien anfangs für diesen einzigen, herbeirasenden, nadelspitzen Gedanken zu klein zu sein, als wollte die darauffolgende Erkenntnis einfach nicht hineinpassen. Bis er begriff.
Er lag im Wald. Entkleidet und allein. In einer Gegend, die er wie die Westentasche seiner grünen Uniform kennt. Da, der verlassene Ameisenhügel...Wie gern hatte er in der Kinderzeit mit seinem besten Freund Klaus in der Nähe dieses Fleckchens Erde gespielt und - mit der Lupe seines Großvaters den Sonnenstrahl einfangend - große, Tannennadeln tragende Waldameisen gegrillt, bis sie unter ihrer Last zu winzigen Klümpchen verkohlten! Himmel noch mal, war das ein Gaudi! Und weil Klaus und er schon immer gern zusammen gefetet haben, gingen sie eben auch - wie sich das unter Kameraden gehört - gemeinsam zu den Jungjägern, wegen Naturschutz und so. Hatte er nicht erst vorhin mit Klaus ordentlich gefeiert, Einen abgebechert, wegen der ertragreichen Beute? Sieben Füchse, zählt man die eine abgeschossene Pfote mit, vier Dachse und allerhand anderes Viehzeug hatten sie zur Strecke gebracht. Immerhin zu zweit!  Das soll erstmal jemand nachmachen, der ganz allein bei diesem beschissenen Wetter unterwegs ist, sagt Klaus.
Doch Klaus war nicht da, f....bestimmt seine Alte! Überhaupt konnte man sich nur dann auf ihn verlassen, wenn's Spaß gab. Typisch.
Doch da! Horch? Hundert Mal - nein, öfter - hatte er ihre heiseren, kehligen Laute vernommen. Geräusche, welche seinen Puls in freudiger Überraschung stets auf Hochtour brachten, sämtliche Sinne beflügelten. Jetzt jedoch, in diesem ganz speziellen Moment, nicht. Sein  blaugraues Augenpaar - Augen eines Entdeckers - blickten in zwei bernsteinfarbene. Wach und klug im glänzenden Fell, bewegten sie sich keinen Deut. Der Jäger erstarrte. Und als einer der Füchse drohend sein halbes Bein aus dem blutroten Schnee erhob, wollte ein menschlicher, angstvoller Schrei die friedliche Ruhe des Wintertages zerreißen, bevor sich die gefühllose Hand des Jägers zwischen seinen eigenen Zähnen vergrub. Leise knisternd zerbrachen hauchdünne Eisfäden und gaben einen gänsehäutigen, weißen Körper frei, der sich blitzartig auf zwei Füße stellte und versuchte - wie auf Watte taumelnd - um sein nacktes Leben zu rennen. Vergeblich. Wurzeln, Äste und faulendes Laub umspannten ihn sekundenschnell bis zur Hüfte. Verhinderten die Flucht. Panik trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn, der noch kälter gefror.
Er drehte sich zu den beiden Füchsen. Einer verletzt, doch nicht sie. Stolz warf die Fehe den rotgoldenen Kopf zurück. Blei füllte die blassen Adern des Jägers. Er kannte sie. Und ihren Blick, der ihn vor nicht ganz einem Jahr - als er ihre Jungen erschlagen hatte - wie ein Pfeil treffen sollte...Sollte! Denn er verfehlte sein steinernes Herz. Und er erinnerte sich, wie schallend laut Klaus und er lachten, als sie verspätet, ein Huhn im Maul, eintraf. Nichts Lebendes mehr vorfand. Irritiert innehielt, bis die Bestürzung Silber in ihre wissenden, trostlosen Augen malte. Es waren ihre ersten Kinder, aber das würde nie ein Mensch, selbst kein Jäger, jemals erfahren.
Sie saß zum Greifen nahe, und sie schossen auf sie, was das Zeug hielt! Leider, und das war wirklich zu schade, trafen sie nur das blöde Huhn, das sie fallengelassen hatte, bevor sie ihren rasch verschwindenden Schatten warf. Klaus und er hätten eben nicht so viel tanken sollen! Da macht man schon mal Fehler.
Der Jäger zitterte wie Espenlaub. Was heizt besser, als ein aufmunterndes Erlebnis?
Während er schmunzelnd die drollige Anekdote Revue passieren ließ, versammelten sie sich. SIE waren viele. Ihre geschmeidigen Glieder streiften beinahe lautlos durch die Wälder. Sie brachten den Wind mit - und je näher sie kamen, den Sturm. Wie lodernde, unhaltbare Lava sah er sie kommen und traute seinen sonst so beflügelten Sinnen nicht. Und so wünschte sich ein von Angst besessener Mann nichts sehnlicher, als klaftertief unter den schützenden Ameisenhaufen zu sinken. Jenes Betätigungsfeld, welches er als Kind so sehr geliebt hatte. Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung, denn es war der Tag der Rache.
Dachse, Rehe, Wildschweine, Füchse, Marderhunde... Am verschneiten Horizont erschienen sie in beweglichen Farben. In satten, unterschiedlichen Brauntönen näherten sie sich der milchigen, zitternden Gestalt, die auswegsuchend, um Vergebung betend, zum sich verdunkelnden Himmel starrte und weinte. Dort oben, wo es nie einen Gott gab, hatten sich die Vögel versammelt, peitschten ihre Flügel durch die gefrierenden Lüfte, umkreisten den Jäger, ließen ihn nicht entkommen. Wie auch? Schließlich hat er keine Federn, um der Gefahr zu entwischen, nach Afrika oder sonst wohin zu fliegen. Keinen Pelz, mit dem er sich gegen Nässe und "oh lieber Gott, diese furchtbare, todbringende Kälte" schützen könnte. Er hat nur ein Gewehr, allerhand Schnickschnack, ein paar Pistolen und seine heißgeliebte Tarnkleidung, mit der er sich jeder Zeit verstecken kann. Nur heute nicht, da seine überlebenswichtigen Dinge zu Hause sind! Ohne die ist er aufgeschmissen. Nicht mal einen Tag würde er solch eine Witterung überstehen und müsste, wie Klaus sagen würde: "Verhungern und vorher erfrieren." Kurz und knapp: Er würde sterben.
Langsam - nein, viel zu schnell - wurde es wärmer! Der Schnee schmolz. Bildete  unförmige Pfützen, die zu drückendem Nebel verdampfend, höher stiegen. Er keuchte und sah.
"Die Tiere!" Sie hatten ihn umzingelt. Ihre lebendige Nähe, die Hitze ihres glühenden Fells ließ ihm, den vermeintlichen  Herrscher über ihr Schicksal, den Verstand verlieren."Es ist sooo heiß," stöhnte er und rang um Luft. 'Wie das Höllenfeuer...' war sein letzter Gedanke in seiner alten Welt. "Gnade!" jammerte er verzweifelt - trat einen Schritt zurück...und stürzte in die Tiefe.
"Es ist kein Bau.", flüsterte er ins Kopfkissen, blinzelte, schaute seinem, an der Wand hängenden, ausgestopften Rehbock in die gläsernen Augen und schrie.

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